Freiberg - eine Stadt unter Druck

Bei schönem Wetter sitzen die Menschen auf dem Obermarkt - darunter viele Migranten. Ist Freiberg mit der Zuwanderung überfordert?

Freiberg will keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Seit Monaten kämpft die Stadt um einen Zuzugsstopp, der Beschluss spaltet die Bevölkerung. Und das Land zögert mit einer Entscheidung. Doch eigentlich hat der Oberbürgermeister längst sein Ziel erreicht.

Von Oliver Hach und Ulrich Wolf
erschienen am 14.04.2018

Das Polizeiprotokoll führt den Vorfall vom 3. Mai 2017 als "Körperverletzung - Ausländerbezug". An der Oberschule "Gottfried Pabst von Ohain" geraten zwei deutsche und zwei syrische Schüler aneinander. Von Rangelei ist die Rede, dann folgt der Satz: "Ein 48-jähriger Lehrer, der schlichten wollte, ging dazwischen und bekam versehentlich einen Schlag gegen die Schläfe."

Der Schulleiter schildert den Fall als Prügelei. Ein Lehrer sei derartig beschimpft und beleidigt worden, dass man die Polizei rief, so Dieter Heydenreich. Es war nicht der erste Vorfall dieser Art an der Freiberger Oberschule. Zuvor hatte bereits ein ausländischer Schüler einen Lehrer mit den Worten bedroht: "Ich komme zurück und bringe dich um!"

Seit Anfang 2015 wird an der Ohainschule Deutsch als Zweitsprache (DaZ) unterrichtet, der Anteil der Migranten unter den 340 Schülern liegt jetzt bei 26 Prozent. Nach dem Vorfall vom Mai 2017 schreibt Schulleiter Heydenreich einen dreiseitigen Brief an die Sächsische Bildungsagentur. Es ist ein Hilferuf. DaZ-Schüler weigerten sich, in die Regelklassen zu gehen, wenn DaZ-Lehrer erkrankten. Hinzu komme "ein ständiger Lärmpegel und das unangemessene Verhalten". Eine Kollegin habe sich geweigert, bei den DaZ-Schülern die Pausenaufsicht zu führen. "Viele vollintegrierte Schülerinnen und Schüler werden voraussichtlich am Schuljahresende das Klassenziel nicht erreichen", warnt der Schulleiter und fordert dringend soziale Betreuung.

Die Ohainschule liegt im Stadtteil Friedeburg. In dem sanierten DDR-Plattenbaugebiet, wo die Mieten so niedrig sind, dass sie bei Hartz-IV-Empfängern übernommen werden, haben viele Flüchtlinge eine Wohnung gefunden. So wurde die Ohainschule zum Brennpunkt einer Entwicklung, an deren Ende eine kontrovers diskutierte Entscheidung stand: Die Stadt Freiberg will keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Mit deutlicher Mehrheit entschied der Stadtrat Ende Januar, einen Zuzugsstopp für anerkannte Flüchtlinge zu beantragen. Und das gleich für vier Jahre. "Das ist kein Nein zu Flüchtlingen, sondern ein Nein zur Asylpolitik des Landkreises", rief Oberbürgermeister Sven Krüger (SPD) in den Ratssaal.

Seither muss Krüger sein Vorgehen immer wieder erklären, zuletzt kurz vor Ostern auf einer Bürgerversammlung in der Bahnhofsvorstadt. Von den 53 Kommunen im Landkreis Mittelsachsen, so sagt Krüger dort, hätten nur sechs Kommunen Flüchtlinge aufgenommen. Der im Landkreis gültige Verteilungsschlüssel von 18 Flüchtlingen auf 1000 Einwohner sei für Freiberg zu schultern gewesen. "750 Flüchtlinge hätten wir problemlos aufnehmen können." Doch nun seien es mehr als 1500. Der OB verweist auf Cottbus, wo die Lage zwischen Ausländern und Deutschen eskalierte. "In Cottbus ist die Stimmung gekippt. Ich möchte verhindern, dass wir in Freiberg an diesen Punkt kommen."

In Freiberg ist die Stimmung bislang nicht gekippt. Es gibt hier keine nennenswerten Spannungen zwischen Ausländern und Einheimischen, keine Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingsgruppen wie in Plauen, wo eine Bürgerplattform demonstriert und die Stadt ein Alkoholverbot in der Innenstadt plant. In Freiberg ist es ruhig. Wie also kam es zum Zuzugsstopp? Waren es allein die Zustände an der Ohainschule?

Bereits im Dezember 2015 hatte OB Krüger mit seinen Genossen der SPD Mittelsachsen eine "gerechte Verteilung von Flüchtlingen" sowie ein "Unterbringungs- und Integrationskonzept für Mittelsachsen" angemahnt. Im Frühjahr 2017 schrieb er Bundeskanzlerin Angela Merkel einen bislang unbeantworteten Brief, Freiberg sei 2016 als Kommune bei den Kosten für Flüchtlinge auf 736.000 Euro sitzengeblieben. Immer wieder betont Krüger, die Stadt habe "die Grenze des Machbaren" erreicht. Es fehlten über 400 Kitaplätze sowie mindestens zwölf Klassenräume in den Schulen.

Platznot hat etwa die Kindertagesstätte "Regenbogen" im Stadtteil Wasserberg. Die größte Asylunterkunft der Stadt in der ehemaligen Kaserne an der Chemnitzer Straße liegt nur fünf Minuten Fußweg entfernt. Krüger zufolge wird dort inzwischen fast ein Drittel der Betreuungsplätze von Kindern aus nichtdeutschsprachigen Familien belegt. In einigen Gruppen seien es schon bis zu 50 Prozent. Im Sommer 2017 lud die Kita-Leitung den OB ein. Die Mitarbeiter hätten ihm deutlich gemacht, dass sie ihren pädagogischen Anspruch nicht mehr gewährleisten könnten, sagt Krüger.

Die Anzahl der Ausländer in der 42.000-Einwohner-Stadt, wo die Bevölkerung seit einigen Jahren wieder wächst, hat sich seit 2011 von rund 1000 auf 4000 vervierfacht. Vor allem minderjährige und junge Männer aus Nordafrika werden von der Stadt in Verbindung gebracht mit Eigentumsdelikten. In diesem Bereich sei 2016 der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger auf 44,5 Prozent gestiegen, heißt es. Die Stabsstelle Asyl im Landratsamt Mittelsachsen kommt zu dem Ergebnis: "Die Situation ist vor allem wegen der Probleme mit straffälligen Flüchtlingen nicht rosig."

Ein Besuch an der TU Bergakademie Freiberg. Die auf Geowissenschaften, Werkstoffe, Energie und Umweltschutz zugeschnittenen Studiengänge locken junge Leute aus der ganzen Welt, jeder Vierte der 4300 Studierenden kommt aus dem Ausland. "Als das Thema Zuzugsstopp aufkam, hat unser Rektor gleich unsere Weltoffenheitsanstecker nachbestellt", erzählt die Dame in der Pressestelle. Sie verweist auf ein Netzwerk afrikanischer Studenten, auf Tutoren des Programms "Welcome", das Flüchtlinge auf ihr mögliches Studium vorbereitet. Es gibt ein Sprachcafé, die Bergakademie ist Mitglied der Initiative "Wir sind Freiberg - lokales Netz für eine weltoffene Stadt". Der Sprecher des Studentenwerks sagt: "Das ist doch selbstverständlich, dass wir gegen Fremdenfeindlichkeit sind."

Aber es gibt an der Bergakademie auch die AfD. Prof. Dr.-Ing. Heiko Hessenkemper, Inhaber des Lehrstuhls für Glas- und Emailtechnik, lehrt hier seit 22 Jahren. Nun sitzt er für die AfD im Bundestag. Mit seinem Arbeitgeber sei politische Neutralität vereinbart worden, betont er. Außerhalb der Universität zeigt Hessenkemper umso mehr Profil. Im Februar rief er Lokalpolitiker dazu auf, Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik leisten. Hessenkempers Institutskollege Rolf Weigand ist AfD-Landtagsabgeordneter. Weigand unterstützt den Zuzugsstopp. Freiberg fühle sich "von der Flutungspolitik an die Grenzen der Belastbarkeit gedrängt". Es sollten viele weitere Kommunen "dem Aufstand folgen".

Für die AfD ist Freiberg ein gutes Pflaster. Bei der Bundestagswahl im vergangenen September erhielt die Partei 30,1 Prozent der Zweitstimmen, fast sieben Prozent mehr als die CDU. Doch statt Abgrenzung liebäugeln die Christdemokraten in Freiberg mit einer Zusammenarbeit. CDU-Stadtchef Holger Reuter, hauptberuflich Baubürgermeister und Stellvertreter des Oberbürgermeisters, sagte Anfang November 2017 im MDR: "Wenn sich die AfD stabilisiert und zu einer Politik kommt, die dem Bürger auch wirklich Wege zeigt, wie es besser werden kann, dann halte ich auch eine Koalition mit der AfD für möglich."

OB Krüger betont, er könne keine Rücksicht darauf nehmen, ob er beim Zuzugsstopp Applaus von der falschen Seite bekomme. Und er habe sich nicht von Stimmungen leiten lassen. Auch nicht vom miserablen Wahlergebnis seiner Partei, der SPD. Er sei vor etwa 20 Jahren in die SPD eingetreten. Aber: "Als Oberbürgermeister fühle ich mich den Bürgern verpflichtet, deshalb mache ich auch keine Parteipolitik."

Im Dezember 2017 - an der Ohainschule herrschte akute Personalnot: eine überforderte DaZ-Lehrerin hatte gekündigt, Kollegen waren erkrankt - fiel dem Oberbürgermeister ein Artikel im Fachblatt "Der Neue Kämmerer" in die Hände. "Atempause für Salzgitter" heißt es dort, berichtet wird über die bundesweit erste Stadt mit Zuzugssperre für Flüchtlinge. Krüger hat in dem Artikel Sätze unterstrichen wie "Es fehlt an Krippen-, Kita-, Schul- und Arbeitsplätzen und an Erziehern und Lehrern." Oder: "Unter diesen Bedingungen kann Integration nicht gelingen." Salzgitter wird zur Blaupause für Freiberg. Wenige Wochen später spricht Krüger zum Neujahrsempfang erstmals von drohenden Parallelgesellschaften.

Es gibt in Freiberg auch Gegner des Zuzugsstopps, aber die meisten sind leise - oder nicht mehr in der Stadt. Michael Tetzner war Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinden Petri-Nikolai und St. Johannis in Freiberg. Er taufte viele Flüchtlinge, vor allem Iraner und Afghanen, es gibt nun eine Bibelstunde auf Persisch. Nach 15 Jahren kehrte Tetzner Freiberg zu Jahresbeginn den Rücken, leitet nun das Pfarramt in Zwönitz. Der Ton sei im vergangenen Jahr rauer geworden in Freiberg, obwohl die Zahl der Asylsuchenden sank, berichtet der Pfarrer, der auch in der Kirchgemeinde für seinen Pro-Flüchtlingskurs kritisiert wurde. "Den vom Oberbürgermeister geforderten Zuzugsstopp für Freiberg finde ich sehr traurig", sagt Tetzner.

Auch beim Verein "Freiberg grenzenlos" sieht man die Entscheidung kritisch. Die jungen Leute, die auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise auf der Straße gegen Fremdenhass mobilisierten, bemühen sich nun mit Projekten wie "Küche für alle" und "Sprachcafé" um die Integration von Flüchtlingen. Vereinssprecher Markus Zschorsch sagt, der Zuzugsstopp sei ein schwieriges Thema. "Aber so, wie es hier abgelaufen ist, ist es ein falsches Signal." Er vermisst eine klare Ansage des Oberbürgermeisters, die Integration in der Stadt gemeinsam anzupacken. "Statt dessen werden die Migranten nur als Problem dargestellt." Das spiele Leuten in die Karten, die hier ohnehin schon Vorbehalte hätten.

Im Stadtrat endete die Abstimmung über die "negative Wohnsitzauflage" mit 23 Ja-, sechs Nein-Stimmen und fünf Enthaltungen. Die Linke Jana Pinka stimmte mit Nein. Sie befürchtete, ihre Heimatstadt werde "zum Gespött, obwohl sie weltoffen, tolerant und liebenswert ist". Pinka, die auch Landtagsabgeordnete ist, warnte: "Wir schüren dadurch Ängste." Und: "Die Integrationsarbeit bleibt völlig offen." Auch Landrat Matthias Damm (CDU) sagte in einem Interview: "Tatsächlich hat der Antrag und wie er öffentlich gemacht wurde, Freiberg in ein schlechtes Licht gerückt, weil er die gute Integrationsarbeit nicht ausreichend berücksichtigt."

Hat das Thema Zuzugsstopp dem Image der Stadt geschadet? "Überhaupt nicht", sagt Krüger. In den Medien, auch den überregionalen, sei sehr sachlich über Freiberg berichtet worden. Das Land Sachsen indes zögert weiter mit einer Entscheidung. Am Donnerstag war Krüger zu einem Gespräch bei der Landesdirektion. Die teilt hinterher mit, der Antrag Freibergs sei "ruhend gestellt". Der Landkreis Mittelsachsen habe zwar anerkannt, dass Freiberg bei der Verteilung der Flüchtlinge in der Vergangenheit überproportional belastet wurde. Inzwischen seien jedoch Schritte eingeleitet worden, "die zu einer schrittweisen Änderung des Zustandes führen sollen".

Seit April verteilt der Landkreis keine Flüchtlinge mehr nach Freiberg. Und der Kreistag beschloss, dass künftig 15 Kommunen in Mittelsachsen Flüchtlinge aufnehmen sollen, darunter auch Freibergs Nachbarstadt Brand-Erbisdorf. Aus der Ohainschule heißt es jetzt, die Lage habe sich beruhigt. "Wir haben ausreichend Personal", sagt Schulleiter Heydenreich, neue DaZ-Schüler seien in letzter Zeit nicht mehr hinzugekommen. In Freiberg werden aktuell drei neue Kitas und eine Grundschule gebaut, das Geld ist da.

Braucht die Stadt den Zuzugsstopp also überhaupt noch? OB Krüger sagt: "Ohne den Druck wäre nichts passiert." Man halte an dem Antrag fest. "Gegebenenfalls werden wir ins Klageverfahren einsteigen." Für Jana Pinka ist die Nichteinigung ein untragbarer Zustand. Das Land drücke sich hier vor einer Entscheidung. Sie selbst hat bei der Landesdirektion Widerspruch gegen den Antrag auf Zuzugsstopp eingelegt, den sie für rechtswidrig hält. Sie kündigt an: "Wenn Herr Krüger nicht klagt, dann werde ich klagen."

Die Geschichte der Wohnsitzauflage Das Zuzugsverbot ist nicht neu. Bereits 1946 sprach Hamburg eine vier Jahre währende Zuzugssperre für Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten aus. 1977 verhängten mehr als 50 westdeutsche Städte Zuzugssperren, weil ihre Ausländerquote über zwölf Prozent zu steigen drohte. Doch der Erfolg blieb aus. Der Verwaltungsaufwand war hoch, und Arbeitgeber brauchten ausländische Mitarbeiter. Die Zuzugssperre verschwand wieder. Nur für die Westberliner Bezirke Kreuzberg, Tiergarten und Wedding bestand sie bis 1990.

Mit dem Integrationsgesetz, das der Bundestag im Sommer 2016 beschloss, wurde ein Paragraf ins Aufenthaltsgesetz aufgenommen, nach dem die Bundesländer Wohnsitzauflagen für Flüchtlinge erlassen können. Zuerst machten davon ab Herbst 2017 in Niedersachsen die Städte Salzgitter, Delmenhorst und Wilhelmshaven Gebrauch. Für Cottbus genehmigte das Brandenburger Innenministerium im Januar einen Zuzugsstopp, im März kam Pirmasens in Rheinland-Pfalz hinzu. In Sachsen können Landkreise seit 1. April den Flüchtlingen für bis zu drei Jahre den Wohnsitz in einem bestimmten Ort vorschreiben.


aus "Freie Presse" vom 14.04.2018